Tunesien: eine politische und soziale Bewegung
Interview mit zwei aktiven tunesischen Genossen
Aufgenommen am 26. Januar 2011
vom Collectif Lieux Communs1 aus Frankreich
Die ganze Welt hat den ersten Sturz eines arabischen karikaturhaft autokratischen und korrupten Regimes miterlebt, den man nicht mehr für möglich gehalten hat. Trotz der latenten Unzufriedenheit und punktuellen Erhebungen in den letzten Jahren hat der Aufstand alle Leute überrascht, auch diejenigen, die noch am meisten Kontakt mit der sozialen Realität hatten. Warum? Und wie schätzt Ihr die Ereignisse ein?
▶ Den Aufstand hat praktisch niemand vorhergesehen, aber er war für viele, auch uns, keine Überraschung.
▶ Wir können das, was passiert ist, als Volkserhebung charakterisieren: das ist keine Revolution in traditionellen, strengen und umfassenden Sinn. Was geschehen ist, ist mit den Intifadas vergleichbar, den Erhebungen, den Revolten, die sich in den besetzten Gebieten in den 1990er Jahren abgespielt haben. Eine Volksbewegung für Demokratie, grundlegende Freiheiten und mit sozialen Forderungen: politische und soziale Forderungen überschneiden sich und gehen durcheinander.
Man kann sagen, dass die Situation für diesen Sprung, diese Erhebung reif war, besonders seit den Vorkommnissen in der Region der Phosphatminen rund um Gafsa 2008. Die Bestandteile waren also schon vorhanden, und der junge Mann aus Sidi Bouzid, der sich am 17. Dezember verbrannt hat, war der Funke, der die gesamte Situation in Brand gesetzt hat. So lassen sich die Ereignisse charakterisieren. Das ist keine Revolution im Sinne einer politischen Bewegung, die eine besondere gesellschaftliche Kraft, eine gesellschaftliche Klasse, eine oder mehrere politische Gruppierungen an die Macht bringt. Eine solche Interpretation sollte man absolut vermeiden, sie schränkt nur den allgemeinen Rahmen der Analyse ein. (mehr…)