Der Krieg in Syrien greift nicht auf das kleine Nachbarland über. Aber der Konflikt vertieft die Brüche dort. Die schiitische Hizbullah hält sich bedeckt. Aber viele Politiker, die dem Damaszener Regime feindlich gegenüber stehen, bleiben lieber zu Hause.
Rainer Hermann, Beirut in der FAZ
In der engen Häuserschlucht fällt das hohe weiße Gebäude mit der Aufschrift „New TV“ nur deshalb auf, weil Soldaten in Tarnuniformen davor stehen. Seit der Nacht zum Dienstag schützen sie den Eingang des Fernsehsenders. In den Stunden davor hatte ein Mob auf der Straße Benzin ausgegossen und angezündet. Maskierte schossen auf die Eingangstür und setzen Reifen in Brand. Dabei verletzte sich einer der Angreifer. Während die anderen flüchteten, konnten die Nachbarn den jungen Schiiten Wissam Alaeddin festnehmen und der Polizei übergeben. Auf seiner Facebookseite hatte er geschrieben: „Ich gebe mein Leben für Baschar al Assad.“ Sein Leben hat Alaeddin vorerst nicht für den syrischen Staatspräsidenten gegeben, doch nun sitzt er erst einmal in Haft.
Der Angriff auf den Fernsehsender in Beirut illustriert die Spannungen, die der Krieg in Syrien im benachbarten Libanon schürt. New TV ist der wohl einzige Sender, der im Libanon überkonfessionell arbeitet. Sein Besitzer Tahsin Khayat ist ein schiitischer Geschäftsmann, die Beschäftigten des Senders stammen aus allen Religionsgemeinschaften. Am Sonntagabend hatte New TV den sunnitischen Geistlichen Ahmad Asir zu einem Interview geladen, und der polemisierte wild gegen die Schiiten und gegen deren Parteien Hizbullah und Amal. Zum Anlass nahm er ein im Libanon zirkulierendes Computerspiel, von dem er glaubt, dass es den sunnitischen Islam diffamiere.
Schon in den Tagen zuvor war der Sunnit Asir gegen den Chef der Hizbullah in der Bekaa-Ebene, Scheich Muhammad Yazbek, ausfällig geworden. Yazbek hatte die den Schiiten verhasste Prophetengattin Aischa verhöhnt – die frühislamische Geschichte spaltet die Muslime auch noch in der Gegenwart. New TV wusste schon am Sonntagabend, welche Wirkung die Polemik von Ahmad Asir, dem Star unter den neuen salafistischen Predigern des Libanon, haben könnte und nahm den Text zu dem Interview von seiner Website. Dennoch griff der schiitische Mob am Montagabend an. Am Dienstag besuchte dann einer der führenden Abgeordneten der Hizbullah, Hassan Fadlallah, den Sender, um den Angriff zu verurteilen.
Die schiitische Hizbullah steht zum syrischen Regime, die meisten libanesischen Sunniten hingegen wollen Assad stürzen. Der Konflikt in Syrien greife dennoch nicht auf den Libanon über, wiederholt Ministerpräsident Nadschib Miqati, einer der wenigen prosyrischen Sunniten, immer wieder. Einen neuen Bürgerkrieg werde es im Libanon wegen Syrien also nicht geben. Immun gegen den Konflikt in Syrien sei sein Land aber nicht, fügt Miqati stets hinzu.
Auch wenn der reiche Geschäftsmann Miqati ein Freund Assads ist, verhält sich seine Regierung, in der viele Parteien vertreten sind, gegenüber Syrien neutral. „Damit schützen wir den Libanon“, sagt Rami al Rayes, der Sprecher der Fortschrittlichen Sozialistischen Partei des Drusenführers Walid Dschumblat. „Als politische Partei aber unterstützen wir das Streben des syrischen Volks nach Demokratie und Freiheit“, ergänzt Rayes. Innerhalb des Libanon sollten die Parteien ihre Politik indes nicht von ihrer Haltung gegenüber Syrien abhängig machen, sagt er. „Denn wir haben keine Alternative zur Koexistenz.“
Die Hizbullah hält sich zurück
Daran hält sich auch die Hizbullah. Selbst wenn sie in den vergangenen Jahren mit ihrem Waffenarsenal wiederholt ihre Macht gezeigt hatte, übt sie sich nun in Zurückhaltung. Dabei habe es ja nicht an Versuchen gefehlt, die Hizbullah in eine offene Auseinandersetzung zu ziehen und damit den Konflikt in Syrien in den Libanon zu tragen, sagt Amal Saad Ghorayeb, Kolumnistin bei der prosyrischen Zeitung „Al Akhbar“. So haben bewaffnete sunnitische Rebellen in Syrien elf schiitische Pilger entführt, die auf dem Heimweg von Iran in den Libanon waren. Im Beiruter Stadtteil Tariq Jdeide hat zudem ein syrienfeindlicher sunnitischer Mob die Parteizentrale der pro-syrischen „Arabischen Bewegung“ angriffen. Ihr Vorsitzender Shaker Barjawi ist zwar Sunnit, steht aber der Hizbullah nahe. Bei der fünfstündigen Straßenschlacht wurden drei Menschen getötet und 18 weitere verletzt. Die Hizbullah gab Barjawi Zuflucht, blieb aber wie im Fall der Pilger ruhig.
Viele libanesische Beobachter sagen, dass sich in der Hizbullah zwei Lager herausbildeten. Die Pragmatiker hätten erkannt, dass Assads Regime nicht zu halten sei und sähen dessen Kampf nicht als den ihren, heißt es. Sie bereiteten sich daher auf die Zeit nach Assad vor. Selbst der Fernsehsender der Hizbullah, al Manar, bezieht zum Konflikt in Syrien nicht länger offen Stellung. Auch der Generalsekretär der Hizbullah, Hassan Nasrallah, soll dem pragmatischen Lager zuneigen. Die unter dem Einfluss der iranischen Revolutionswächter stehenden Radikalen hingegen forderten dazu auf, die strategische Allianz von Teheran über Damaskus bis zur Hizbullah auf keinen Fall aufzugeben. Auch Iran sei gegenwärtig nicht an einer Eskalation der Gewalt im Libanon interessiert, solange sich Teheran zumindest formal mit dem Westen über sein Atomprogramm im Gespräch befinde, sagen manche libanesische Beobachter.
Syrien war das Transitland für Waffen aus Iran
Unbestritten wird die Hizbullah durch den Krieg in Syrien und den erwarteten Sturz Assads geschwächt. Syrien war stets das Transitland für die Waffen, die Iran an die Hizbullah geliefert hat. Als wahrscheinlich bezeichnen auch die meisten Beobachter, dass die Hizbullah ihre um Damaskus gelagerten Raketen vorsorglich in den Libanon gebracht haben könnte. Muhammad Raad, der Vertreter der Hizbullah am runden Tisch des Nationalen Dialogs, hat bei dem jüngsten Treffen am 25. Juni sogar erstmals zugesagt, er sei bereit, über das Thema „Nationale Verteidigung“ zu sprechen – und damit über die Waffen der Hizbullah.
Die „Partei Gottes“ hat offenbar eher die nächsten Wahlen im Blick, die im kommenden Jahr stattfinden, als einen neuen Waffengang. „Die Hizbullah muss zwischen den Interessen der libanesischen Schiiten und den strategischen Interessen Irans wählen“, sagt Antoine Haddad, der Generalsekretär des Exekutivkomitees der syrienkritischen, liberalen Partei der „Demokratischen Erneuerungsbewegung“. Der Graben zwischen beiden Interessen werde immer größer, sagt Haddad. Denn seit die Hizbullah der Regierung angehöre, mache die schiitische Wählerschaft auch sie für die zahlreichen Stromausfälle, die Arbeitslosigkeit und de schlechte wirtschaftliche Lage mitverantwortlich.
Die Schiiten als große Aufsteiger
Im Libanon waren die lange verarmten und marginalisierten Schiiten in den vergangenen Jahrzehnten die großen Aufsteiger. „Der schiitische Südlibanon ist heute Boomregion, der sunnitische Nordlibanon hingegen eine Krisenregion“, sagt Stefan Leder, der Direktor des deutschen Orient-Instituts in Beirut. Iran hat seit dem Krieg von 2006 viel Geld in den Südlibanon investiert, das meiste kommt aber von den schiitischen Händlern, die in Afrika reich geworden sind. Um den neuen Wohlstand nicht zu gefährden, wolle im Süden keiner einen Krieg, heißt es. Die gut organisierte Hizbullah vertritt politisch die gesellschaftlichen Aufsteiger. Die protzigen Fassaden der – oft leerstehenden – Häuser in Beiruts Innenstadt, die der frühere sunnitische Ministerpräsidenten Rafiq al Hariri wieder aufbauen ließ, stehen dagegen für das Fehlen eines sunnitischen Zukunftsprojekts im Libanon. Selbst an der Beiruter Jesuitenuniversität St. Joseph stellen die Schiiten schon ein Drittel der Studenten.
Ginge es nach dem Willen der Pragmatiker in der Hizbullah, würde Syrien sie nicht länger als Instrument zur Manipulation des Libanon einsetzen. Ein in die Ecke gedrängter Assad hält indessen weiter Karten in der Hand, um den Libanon in Angst und Schrecken zu versetzen: Im Norden des Landes hat Syrien in mehr als drei Jahrzehnten ein Netz von Agenten geschaffen, die, wie die jüngsten Unruhen in Tripoli gezeigt haben, weiter Befehle aus Damaskus befolgen. Im Mai hatte zudem der in Damaskus residierende radikale Palästinenserführer Ahmad Dschibril das libanesische Palästinenserlager Ain al Helweh im Südlibanon besucht und seinen Widerstand gegen die Entwaffnung der Palästinenser in den Lagern erneuert. Prompt entluden sich im Lager neue Spannungen.
Am meisten Angst haben die Libanesen aber vor einer neuen Anschlagsserie wie im Jahr 2005, als prosyrische Agenten das Land terrorisierten. Am 4. April 2012 gaben Unbekannte zwei Schüsse auf den gut geschützten Vorsitzenden der Forces Libanaises, Samir Geagea, ab, die ihr Ziel verfehlten. Der christliche Politiker und ehemalige Milizenführer Geagea gilt im Libanon als der entschiedenste Syrienfeind. Seither verlassen mehrere Politiker aus Angst vor einem Attentat nicht mehr ihre Häuser.
„Vierzig Jahre haben wir Libanesen unter Syrien und der syrischen Destabilisierung gelitten“, sagt Michel Touma von der französischsprachigen Zeitung „L’Orient Le Jour“. Was immer nach Assad komme, sei daher gut für den Libanon. Auch der Drusenführer Dschumblat, der Königsmacher der libanesischen Politik und bei Regierungsbildungen das Zünglein an der Waage, ruft zum Sturz Assads auf und schlägt dazu die „jemenitische Lösung“ vor, bei der Assad in einem ersten Schritt sein Amt an seinen Stellvertreter abgeben solle.
Noch kein Konsens in der libanesischen Regierung
Der Krieg in Syrien greift zwar nicht auf den Libanon über. Er vertieft aber die Brüche im Land. Zwar ist es Staatspräsident Michel Sulaiman gelungen, alle Parteien seit dem 11. Juni wieder zu einem Nationalen Dialog zusammenzubringen. Diese Treffen begannen im Jahr 2006. Sie konnten indes keinen Konsens in den vier zentralen Streitpunkten der libanesischen Politik schaffen: in der Frage des Hariri-Tribunals um die Ermordung Rafiq al Hariris im Februar 2005 in Beirut; bei der Ziehung der Grenzen zu Syrien; bei der Entwaffnung in den Palästinenserlagern und vor allem der Entwaffnung der Hizbullah. Antoine Haddad von der „Demokratischen Erneuerungsbewegung“ sieht das gelassen: „Ein Handschlag vor den Kameras ist besser als die Mobilisierung des Mobs.“