auf ntv, aus unser losen Reihe deutsche think tanks
n-tv.de: Immer mehr Städte und Grenzübergänge werden von der Terrorgruppe Isis besetzt. Gibt es längst den „Islamischen Staat im Irak und in Syrien“, den diese Gruppe anstrebt? Ist der Irak schon zerfallen?
Falko Walde: Der Irak ist im Begriff zu zerfallen, Isis‘ Landgewinne sind bemerkenswert. Die Gruppe ist überraschend stark, die irakische Armee überraschend schwach. Es gelingt ihr nicht, zu einem Gegenschlag auszuholen. Im Gegenteil: Die Armee zieht sich in weiteren Städten kampflos zurück. Das ist das eigentlich Gravierende.
Kann die Hauptstadt Bagdad fallen?
Offiziell zieht sich die Armee aus taktischen Gründen zurück, um Bagdad und die schiitischen Heiligtümer zu verteidigen. Da scheint etwas dran zu sein. Die Armee besteht aus 14 Divisionen, von denen fünf als kampfunfähig gelten. Zwei von ihnen haben in Mossul die Waffen gestreckt. Rund um die Hauptstadt hat die Armee aber auch stärkere Einheiten. Es wird also für Isis keinesfalls einfach, Bagdad einzunehmen. Außerdem sind die bisher besetzten Gebiete sunnitisch, Bagdad ist mehrheitlich schiitisch. Und sowohl der Iran als auch die USA haben Militärberater in die Stadt geschickt, um die Verteidigung zu unterstützen.
Was entsteht in den Gebieten, die von Isis gehalten werden? Sollen dort neue staatliche Strukturen entstehen?
Eindeutig, ja. Das sehen wir in Syrien schon länger, in Mossul zeichnet es sich ab. Es geht nicht nur darum, das Territorium zu beherrschen und auszubeuten, sondern um einen Staat im Staate. Das Gesellschaftsmodell ist klar definiert, es beruht auf einer fundamentalistischen Auslegung des Islam. Frauen müssen sich vollverschleiern, Musik, Händchenhalten, Zigaretten und Alkohol sind verboten, Dieben wird die Hand abgeschlagen. Das Gebiet soll einmal mindestens Syrien, Irak, Jordanien, Libanon und Palästina umfassen.
Wie reagieren die Menschen? Der überwiegende Teil der Bevölkerung wird sich doch nicht von Dschihadisten beherrschen lassen wollen.
Das sollte man vermuten. Aber in Mossul haben sich viele ruhig verhalten, andere haben die Isis-Kämpfer sogar jubelnd begrüßt. Der Hass auf die schiitisch dominierte Regierung von Ministerpräsident Nuri al-Maliki ist so enorm, dass die Angst vor Isis in den Hintergrund tritt. Die Sicherheitskräfte haben die Sunniten in den letzten Jahren schikaniert, viele wurden ohne Gerichtsverfahren in Gefängnisse gesteckt. Isis hat die Gefangenen nun entlassen und dadurch Sympathien bekommen. Das kann umschlagen, wenn Isis seine gesellschaftlichen Vorstellungen zu schnell durchsetzt. Im Irak geht Isis bisher aber sehr klug vor und lässt es dosierter angehen. Früher oder später werden sich die sunnitischen Stämme und die Anhänger der Baath-Partei trotzdem wieder abwenden. Bisher kooperieren sie mit Isis, obwohl sie eigentlich wenig miteinander zu tun haben.
Baath war die Partei von Saddam Hussein, der seit sieben Jahren tot ist. Trotzdem sollen diese Truppen stärker sein als Isis selbst. Stimmt das? Und wo waren sie in den letzten Jahren?
Ja, es stimmt. Isis besteht ja nur aus maximal 10.000 Kämpfern. Die Baath-Milizen haben früher gegen die US-Besatzung gekämpft und sind dann in den Untergrund gedrängt worden. Jetzt sehen sie ihre Chance, das verhasste Regime in Bagdad zu stürzen und gehen darum die Kooperation mit Isis ein. Dabei sind sie eigentlich, ganz im Gegenteil zu Isis, säkular-nationalistisch. Da kann es also noch zu großen Auseinandersetzungen kommen.
Von wem geht der Aufstand denn aus? Von Isis, von den sunnitischen Stämmen oder von den alten Baath-Partei-Kadern? Wer hat die Führung?
Darüber gibt es unterschiedliche Berichte. Isis bemüht sich sogar, die Rolle der Baath in den Vordergrund zu stellen, weil es die Sympathien nutzen will, die dieser Partei noch entgegengebracht werden. Wer wirklich den Ton angibt, ist schwer zu sagen. Alle drei glauben, die jeweils anderen dominieren zu können, wenn es darauf ankommt.
Der Westen ist sich relativ einig darin, was jetzt geschehen muss: Ministerpräsident Nuri al-Maliki muss Sunniten in die Regierung aufnehmen und den Regionen mehr Autonomie zugestehen. Das klingt relativ einfach, warum passiert es nicht?
Einfach ist es jetzt gewiss nicht mehr, denn Maliki hatte ja jahrelang Zeit, eine andere Politik zu machen. Stattdessen hat er die konfessionellen Gräben vertieft, eine spalterische Politik betrieben und im Übrigen ist er gleichzeitig Innen- und Verteidigungsminister und damit für den desolaten Zustand der Armee verantwortlich. Es ist unwahrscheinlich, dass es gerade dieser Person nun gelingt, einen Ausgleich hinzukriegen. Die Ablösung des Ministerpräsidenten ist die absolute Mindestbedingung für viele Sunniten, damit sie überhaupt zum Dialog bereit sind. Andererseits: Wer sollte folgen? Ich sehe niemanden, dem alle Seiten vertrauen würden. Und bei den Schiiten sinkt die Bereitschaft zum Dialog natürlich auch, wenn sie in den sozialen Netzwerken sehen, wie ihre Soldaten massakriert werden. Die Lunte brennt längst.
Vor Kurzem gab es eine Wahl, bei der Malikis Partei gestärkt wurde. Wollen die Schiiten diese spalterische Politik?
Es gibt eine gewisse Unterstützung, Maliki war auf dem Weg, eine neue Koalition zu bilden. Ihn loszuwerden, wird schwierig. Ich bezweifle, dass die USA alleine so viel Druck ausüben können, dass er zurücktritt. Der Iran müsste ein klares Zeichen dazu geben.
Bisher macht der Iran das Gegenteil und stützt Maliki.
Es gibt unterschiedliche Statements. Es wird sehr darauf ankommen, wie sich Teheran entscheidet. Denn der Iran hat einen erheblichen Einfluss auf Politiker und Bevölkerung im Irak. Er könnte weiter spalten oder auf eine Allparteienregierung bestehen.
Mit Falko Walde sprach Christoph Herwartz